Wer bist Du? Verbiegen oder Authentizität?

Wenn wir jemandem gefallen wollen, dann verhalten wir uns so, wie wir vermuten, dass es dem anderen gefällt, wie wir uns verhalten. Das klingt nicht nur kompliziert, sondern ist es auch häufig im wahren Leben. Denn wir können ja meistens nur Vermutungen darüber anstellen, was wir tun können, um einem anderen Menschen zu gefallen. Und wenn sich unser Gegenüber gleichzeitig überlegt, was uns wohl an ihm gefällt und sich versucht, uns anzupassen, dann sind Missverständnisse im gegenseitigen Verstehen und Handeln so gut wie vorprogrammiert.

Wir sind häufig auf der Suche nach Anerkennung und möchten gemocht werden von anderen. Wir schlüpfen für einen kurzen Moment in die Perspektive des anderen auf uns und stellen uns vor, was er oder sie nun von uns erwarten würde, damit wir gefallen. Denken Sie einmal an Ihren Chef. Sie wissen wahrscheinlich sehr genau, was er von Ihnen in bestimmten Situationen im Arbeitsalltag oder im Umgang mit Kollegen erwartet, wie Sie sich in seinen Augen verhalten sollten. Oft sind es auch genau solche Verhaltensweisen, die wir an anderen in unseren Augen erfolgreichen Menschen beobachten, bei denen wir denken, wenn wir uns genauso verhalten, uns also anpassen, dann führt auch uns dies zum Erfolg. Doch in dem Moment, in dem wir uns für jemanden oder ein Ziel verbiegen, geben wir ein Stück unserer eigenen Persönlichkeit auf.

Jeder von uns kennt wahrscheinlich aus seiner Kindheit Sprüche wie „Du musst still sein beim Essen“ oder noch bezeichnender solche Sätze, die mit „man“ anfangen. Man isst mit Messer und Gabel, man hat gerade zu sitzen, man hat zu antworten, wenn man gefragt wird. So wurden wir schon sehr früh daran gewöhnt, dass wir uns so oder anders verhalten müssen, um anderen zu gefallen. Natürlich gibt es bestimme Verhaltens-Regeln oder gesellschaftliche Konventionen, denen wir uns beugen sollten oder sogar müssen. Über die rote Ampel zu fahren, um den Polizisten hinter uns nicht mehr gefallen zu müssen, wäre sicherlich der falsche Ansatz. Wie viele von Ihnen binden sich allmorgendlich eine enge Krawatte um den Hals, nicht weil Sie besonders modebewusst sind oder Freude daran haben, sondern weil Sie denken, dass es von Ihnen erwartet wird? Was wäre anders, wenn Sie morgen ohne Krawatte ins Büro fahren würden?

Fragen Sie doch einmal eine Ihnen nahestehende Person, was er oder sie an Ihnen besonders schätzt. Die Antwort verursacht nicht nur ein unglaublich schönes und aufbauendes Gefühl, sondern verrät Ihnen auch, dass es solche Eigenschaften sind, die zu Ihnen gehören und Ihre einzigartige Persönlichkeit ausmachen (vorausgesetzt diese Person kennt Sie sehr gut). Warum sollten Sie gerade diese wertvollen Ressourcen vertuschen?

Ich weiß nicht, wie lange Ihr letztes Bewerbungsschreiben oder Einstellungsgespräch zurück liegt. Auch dort ist es das Ziel, dem Personalentscheider oder dem zukünftigen Vorgesetzten zu gefallen. Klar, er oder sie soll sich ja für Sie entscheiden bei der Stellenbesetzung. Das führt oft dazu, dass viele Bewerbungsschreiben, die ich bei meinen Coachings zu sehen bekomme, mit Selbstbeweihräucherung überfrachtet sind und genau auf die ausgeschriebene Stelle passen. Die Beschreibung der Person und ihrer Eigenschaften dort hat meist nur wenig mit dem Menschen zu tun, den ich in diesem Augenblick kennenlernen darf. Wie soll ein Personalentscheider ein Bild von Ihnen (!) bekommen, wenn Sie versuchen, ihm oder ihr zu gefallen und alles tun, um sich den vermuteten Erwartungen und den Stellenanforderungen anzupassen, aber nicht Ihr wahres Gesicht zeigen? Wenn Ihr wahres Ich hier nicht gefragt ist, werden Sie aller Wahrscheinlichkeit an dieser Aufgabe mittelfristig auch keine Freude haben.

Aus meinem Blickwinkel spielt Authentizität eine entscheidende Rolle im Leben. Nur wenn wir unser wahres Ich preisgeben – mit allen Stärken und auch Schwächen, denn gerade die Schwächen machen uns oft liebens-würdig – geben wir anderen Menschen die Chance, uns wirklich kennen und auch lieben zu lernen. Sich verbiegen, um gemocht zu werden ist nicht nur sehr anstrengend auf Dauer, sondern kann auch zu unangenehmen Überraschungen und Glaubwürdigkeitsverlust führen, wenn in bestimmten Situationen doch einmal das wahre Ich zum Vorschein kommt.

Oft haben wir über die Jahre unseres Lebens und die Einflüsse und Erwartungen der Menschen um uns herum vergessen, wer wir wirklich sind. Bitten Sie doch einmal eine Person Ihres Vertrauens, mit Ihnen eine Übung zu machen. Er oder Sie sitzt Ihnen gegenüber und stellt Ihnen immer und immer wieder die gleiche Frage: „Wer bist Du?“ Sie antworten immer mit einer anderen Antwort. Diese Frage soll Ihnen Ihr Partner so lange immer wieder stellen, bis Ihnen nach reichlicher Überlegung wirklich gar nichts mehr dazu einfällt. Sie werden überrascht sein, wer Sie alles sind!

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Dr. Bernd Slaghuis

Ich arbeite als Karriereberater & Bewerbungscoach und habe mich auf Themen rund um die Karriereplanung und berufliche Neuorientierung spezialisiert. Seit 2011 habe ich über 2.000 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf sowie im Bewerbungsprozess begleitet - über alle Hierarchieebenen und Branchen hinweg - Online oder in meinem Kölner Büro. Meine Erfahrungen teile ich hier im Blog, in meiner SPIEGEL-Kolumne sowie als XING Insider und LinkedIn Top-Voice.

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