Penner oder Philosoph? Was Begegnungen mit Menschen wertvoll macht

Dies ist mein erster Text im neuen Jahr. Und er ist so ganz anders geworden als sonst. Keine 10 Tipps, wie Sie 2018 im Beruf so richtig durchstarten und nicht die 5 größten Bewerbungs-Trends. Ich möchte sie heute lieber teilhaben lassen an einer für mich überraschenden Begegnung mit einem Menschen, an den ich mich noch lange erinnern werde.

Ich sitze in der Straßenbahn von Refrath nach Köln. Es ist Samstag, der 23.12., kurz vor Mitternacht. In dieser Fahrtrichtung offenbar die Hauptreisezeit für Partygänger. Mich jedoch zieht es verschwitzt und leicht alkoholisiert nach vier Stunden weihnachtlicher Standard-Latein-Tanzparty vor allem in mein Bett. Knapp 30 Minuten dauert die Fahrt, Zeit zum Abkühlen und den Puls auf Ruheniveau zu bringen. Je näher wir Richtung Köln kommen, umso voller wird es. Drei Männer steigen an der Tür direkt vor meinem Platz ein. Einer von ihnen – ich schätze ihn auf Mitte 50 – sehr ungepflegt, nur noch wenige Zähne im Mund, lange, fettige Haare, verschmutzte Kleidung. Die beiden anderen, jünger als ich, sind Köln Besucher aus Stuttgart – wie ich später erfahre. Beim Einsteigen bekomme ich mit, wie sich die drei unterhalten, der „Zahnlose“ gestikuliert dabei mit seinen Händen. Die beiden anderen, sichtlich genervt von ihrem Anhängsel aus der Bahnstation, setzen sich weiter nach hinten. Der ältere Mann, dessen Blick zu mir ich kurz wahrnehme, nimmt neben mir auf der anderen Seite des Ganges Platz.

Ich ziehe das Handy aus der Jeans und scrolle dumpf durch meine Social-Media-Kanäle. Denn auf Konversation in der Bahn habe ich jetzt umgeben von Betrunkenen und selbst reichlich erschöpft so keine Lust. Mit einem Klaps auf meine rechte Schulter werde ich unvermittelt aus meinem Facebook Ablenkmanöver gerissen und noch bevor ich zu ihm hinüber schauen kann, höre ich: „Weißt Du, nur wenige Menschen leben wirklich im Moment.“

Ich bemerke, wie ich kurz überlege, ob ich ihm meine Aufmerksamkeit schenken soll, blicke dann nach rechts rüber, sage „Ja, ja, so ist das.“ und wische weiter über mein Handy. Ruhe. Habe ich es etwa geschafft, ihn abzuwimmeln? Einige Sekunden vergehen. Die beiden Jungs aus Stuttgart im hinteren Teil der Bahn sehen mich grinsend an.

„Ich habe viel über Buddhismus gelesen und Meditation und es ist genau dieser Moment der Leere im Kopf, der uns im Leben so sehr erfüllen kann.“, sagt er, während ich weiter auf mein Handydisplay schaue. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie er sich von seinem Sitz erhebt und schwankend zu mir rüber beugt. „Ich möchte niemanden belehren und habe das ja auch nur aus Büchern, aber es ist so schade, dass viele Menschen nicht bei sich selbst sind.“ Ich blicke schräg zu ihm hoch, sein Oberkörper hatte bereits gefühlt meine Sicherheitszone im Raum durchkreuzt. Ein weiterer Klaps auf meine Schulter. „Ja, ich habe schlechte Zähne, das tut mir leid, aber was ich Dir jetzt sage, ist sehr wichtig.“ Hatte ich etwa zu offensichtlich auf oder besser gesagt in seinen Mund geschaut? – Es ist mir unangenehm.

Mir schossen plötzlich viele Gedanken durch meinen müden Kopf: Wie stark seine Wahrnehmung doch ist. Wie empathisch er zu sein scheint. Wie reflektiert er sich selbst gegenüber ist und Dinge anspricht. Und wieviel Wahrheit in alldem steckt, was er mir unverlangt zwischen zwei Haltestellen mal eben wortwörtlich an den Kopf wirft.

Ich bemerke in diesem Moment, wie sich meine Stimmung verändert und spüre die Lust, ihn besser kennenzulernen. Ich möchte mehr über seine Sichtweisen und sein Leben erfahren und vielleicht auch meine Erfahrungen aus der Arbeit als Coach mit ihm teilen.

Gleichzeitig spüre ich Ärger und es tut mir leid, dass ich ihn so vorschnell in eine Schublade gesteckt und mein Verhalten daran ausgerichtet habe. Ich merke in diesem Augenblick, wie ich mein „Bitte nicht stören!“-Schild im Kopf abhänge und lasse mich bewusst auf ihn ein. Ich nehme noch kurz die anderen Fahrgäste wahr, wie sie mich ansehen und vermutlich denken „Der Arme, jetzt hat der Penner ein neues Opfer gefunden“, doch im nächsten Moment verschwinden alle anderen um mich herum im Kopf wie in dichtem Nebel.

Ich drehe mich auf meinem Sitz zu ihm hin und sage „Es beeindruckt mich, was Du sagst. Woher weißt Du das alles?“ Er erzählt mir, dass er in den letzten Jahren sehr viel über Buddhismus gelesen und das Verhalten vieler Menschen studiert habe. Ich beginne zu erzählen, welche wertvollen Erfahrungen auch ich während meiner Ausbildung zum Coach mit Meditation gemacht habe. Er unterbricht mich immer wieder und klopft mir dabei – für mein Empfinden immer noch zu nah an mir dran – immer mal wieder auf die Schulter. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir wirklich zuhört, denn es scheint, als wolle er doch vor allem seine Botschaften an den Mann bringen.

Also höre ich ihm einfach zu, schließlich hat er ja etwas zu sagen. Ich schenke ihm meine volle Aufmerksamkeit und höre aktiv zu, nicke zustimmend und gebe ihm interessiert den Raum, das zu sagen, was ihm wichtig ist. Und alles das, was er sagt, klingt so klug, ja fast weise aus seinem Mund. Es bewegt etwas in mir, macht mich nachdenklich und ich spüre, wie wertvoll diese Begegnung für mich in diesem Moment ist. Ich bin glücklich, ihm einfach nur zuhören zu können.

Unvermittelt steht er hastig auf und geht in Richtung Tür. Ich bemerke, dass ich sogar etwas traurig bin, dieses Gespräch so abrupt beenden zu müssen. Ich sage „Danke für Deine wertvollen Gedanken und Dir alles Gute!“. Er sieht mich mit einem Ausdruck der Verwunderung an und ich kann erkennen, wie sehr ihn meine Verabschiedung und das Gesagte verunsichert, aber auch emotional bewegt. Ich schiebe noch ein „Ich wünsche Dir ein friedliches Weihnachtsfest.“ hinterher, bevor sich die Türen öffnen und er aussteigt. Er dreht sich um, schaut noch einmal zu mir, nickt, und geht dann den Bahnsteig entlang.

Die Bahn fährt weiter, ich habe noch drei Stationen bis zum Rudolfplatz. Ich entdecke die beiden Stuttgarter, die von ihren Sitzen aufstehen und zu mir kommen. „Na, hat Dich der Verrückte auch so elendig zugetextet?“ – „Nein. Und er ist nicht verrückt, sondern ich halte ihn für sehr klug“, antworte ich ihnen.

Seit dieser Nacht sind zwei Wochen vergangen. So kurz unser Kontakt auch war, hat er mich im hektischen Weihnachtstrubel und mitten im stressigen Umzug in mein neues Büro daran erinnert, was die Begegnung zwischen Menschen wirklich wertvoll macht: Offenheit Anderen gegenüber, echtes Interesse für ihre Sichtweisen sowie deren Wertschätzung. Ich habe in dieser Nacht mein oberflächlich flüchtiges Bild von einem Fremden hinterfragt und wurde überrascht, welches neue Bild eines liebenswerten Menschen sich entwickelt hat.

Warum schreibe ich über dieses Erlebnis heute hier im Karriere-Blog? Vielleicht lohnt es sich für Sie, Ihr Bild etwa vom blöden Chef, der unfähigen Kollegin oder dem nervigen Kunden bei der nächsten Begegnung auch einmal ganz bewusst neu zu belichten? Sie entscheiden, durch welche Brille Sie anderen Menschen begegnen – und auch, in welches Licht Sie sie selbst stellen.

Mein Leben hat diese kurze, nächtliche Begegnung in der Bahn bereichert. Vielleicht bereichert mein heutiger, wenngleich auch ungewohnter Impuls auch Ihr Leben? Schreiben Sie mir doch einmal unten in den Kommentaren, was Ihnen gerade durch den Kopf geht oder welche Begegnung mit einem Menschen für Sie besonders wertvoll war?

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Dr. Bernd Slaghuis

Ich arbeite als Karriereberater & Bewerbungscoach und habe mich auf Themen rund um die Karriereplanung und berufliche Neuorientierung spezialisiert. Seit 2011 habe ich über 2.000 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf sowie im Bewerbungsprozess begleitet - über alle Hierarchieebenen und Branchen hinweg - Online oder in meinem Kölner Büro. Meine Erfahrungen teile ich hier im Blog, in meiner SPIEGEL-Kolumne sowie als XING Insider und LinkedIn Top-Voice.

Dieser Beitrag hat 10 Kommentare
  1. Vielen Dank Herr Slaghuis für diesen Beitrag.
    Ihre Begegnung erinnert mich an die eine oder andere Beratung. Ich berate Fachkräfte, die sich beruflich neu orientieren wollen oder müssen. Oft liegt mir im Vorfeld der Beratung bereits ein Lebenslauf oder eine Bewerbung vor. Diese Unterlagen sind wie der erste Blick auf einen Menschen und führen dazu, dass sich bei mir Schubladen öffnen und ein erstes inneres Bild von der Person entsteht, die da gleich in meiner Beratung sitzen wird… Und immer, wenn mir bewusst wird, dass ich dieses innere Bild habe, dann stelle ich mir einen inneren Scheibenwischer vor, der alles weg wischt und Platz macht für die Person, die mir da tatsächlich in diesem Moment gegenüber sitzt. Mit Neugier und Interesse nehme ich dann soviel mehr wahr und freue mich daran, einen spannenden Menschen kennenzulernen. Ganz oft bin ich dann überrascht, wie weit das erste innere Bild von den Eindrücken der realen Begegnung abweicht. Und ich bin dankbar dafür, diesen Scheibenwischer zu haben…
    Beste Grüße, Henriette Freikamp

  2. Lieber Bernd,

    oh, ich kann mir genau vorstellen, was in Dir vorgegangen ist.
    Mir ist im letzten Jahr jemand begegnet, wo mein erster Impulse war, ich möchte nichts mit diesem Menschen zu tun haben. Doch, es kam natürlich anders. Sie kam in mein direktes Umfeld. Es war ein äußerst unangenehmes Gefühl. Ich habe sie dann näher kennengelernt und doch sehr positive Seite entdecken können. Ich war peinlich berührt von meiner Vorverurteilung.

    Was aber das Spannendste war, sie hat mir etwas gespiegelt, mir einen blinden Fleck aufgezeigt. Ich sehe einen Menschen und bewerte ihn, den finde ich nett und sympathisch und den finde ich doof. Der Mensch dahinter ist aber viel viel mehr und ich nehme mir durch die Bewertung und eine Rückzugsituation die Chance auf eine spannende Begegnung und auch einen Lerneffekt, so wie bei Dir.

    Ich bemühe mich nun, nicht sofort alle gleich in Schubladen zu stecken, das ist nicht immer leicht und eine tolle Lernerfahrung. Echte Begegnungen bringen uns also viel weiter als Bewertungen.

    Toller Artikel!

    Einen schönen Tag und liebe Grüße
    Silke

  3. Lieber Bernd!

    Ich könnte viel schreiben dazu. Ich könnte einen Direktlink setzen zu meinem aktuellen Blogartikel – der in eine erstaunlich ähnliche Richtung geht. Als ob all dies gerade in der Luft liegt.

    Und ich schreibe stattdessen für meine Verhältnisse ungewohnt kurz:

    Endlich!! Und: Danke!!

    Dich heute seit längerem wieder ganz besonders gern lesend,
    von Herzen, Bettina

  4. Eine schöne Geschichte, die einem wieder ins Bewusstsein bringt, wie voreingenommen wir doch Fremden gegenüber (geworden) sind. Mir ist im vergangenen Jahr auch eine Geschichte widerfahren, die mich nachdenklich machte. Ich stand an der Kasse im Supermarkt. Vor mir (vermutlich) eine Flüchtlingsfamilie. Ein junger Vater mit seiner bekopftuchten Frau und kleinem Sohn.
    Hinter mir hatte sich eine lange Schlange gebildet.

    Als es für den Vater der Familie ans Bezahlen ging, überreichte er der Kassiererin drei unpersonalisierte Einkaufsgutscheine im Wert von jeweils 25 Euro. Der gesamte Warenwert lag bei 63 Euro. Die Verkäuferin – sichtlich genervt – raunzte ihn an: „Das geht so nicht! Ich darf Ihnen kein Geld auszahlen. Ich kann nur zwei Gutscheine nehmen und die restlichen 13 Euro müssen Sie in bar bezahlen!“. Der Mann anwortete, dass er kein Bargeld bei sich hatte.

    Hinter mir schnaufte jemand hörbar genervt aus. Und auch ich dachte mir im Stillen: „oh, je … das kann länger dauern.“ Die Verkäuferin sagte dann: „Gehen Sie doch schnell rüber zum Bankautomat“. Der Mann antwortete, dass er keine Karte hatte. Die Situation war ihm und seiner Frau sichtlich unangenehm.

    Jetzt fingen auch die Leute hinter mir an, leise vor sich hin zu fluchen. Die Verkäuferin entgegnete schnippisch: „Ja, und was machen wir jetzt??? Muss ich das alles stornieren, oder was?“
    Aus einem Impuls heraus hörte ich mich zur Verkäuferin sagen: „Buchen Sie die 13 Euro von meiner Karte mit ab“. Sie schaute mich entgeistert an. „Ja wie??? Das müssen Sie aber dann mit DENEN klären, wie Sie Ihr Geld zurückbekommen!“

    Ich antwortete: „Na ja … die Lösungsmöglichkeiten sind so ziemlich ausgeschöpft, oder? So geht es jedenfalls nicht voran.“ Obwohl ich die Menschen hinter mir nicht anblickte, fühlte ich, wie eine La-Hola-Welle der Erleichterung durch die Schlange der Wartenden schwappte.

    Ebenfalls aus einem Impuls heraus überreichte mir das Familienoberhaupt der Familie dann seinen dritten und letzten Einkaufsgutschein. Ich sagte, dass ich ihm den die Differenz zwischen dem ausgelegten Geld und der Gutscheinhöhe auch nicht in bar geben könne und das Geld aber am Automaten ziehen könne.

    Er winkte ab und meinte, dass es schon ok wäre und bedankte sich tausendmal bei mir. Das war mir dann schon fast wieder unangenehm. Ich nahm den Gutschein aber dann dankend entgegen, um ihn nicht noch mehr zu beschämen.

    Ich denke, dass viele von uns aufgrund der allgemeinen Bad-News-Stimmung eine innere Mauer errichtet haben, um alles Negative von uns wegzuhalten. Was hilft? Eine Türe in die Mauer bauen. Nicht abschliessen und einen Spalt geöffnet lassen. Es könnte ja auch mal ein Einhorn vor der Tür stehen. Oder eine Chance. Oder einfach nur nette Menschen

  5. Es ist eben nicht immer alles so wie es auf den ersten Blick aussieht.
    Wir (auch ich) neigen dazu, etwas schnell in Kategorien einzuordnen. Das hilft uns besser mit Situationen umzugehen und schneller zur Entscheidungen zu kommen. Wie wir diese Kategorien anlegen, wird von sehr vielen Einflüssen, teils bewusst, teils unbewusst, geregelt.

    Das ist soweit gut, da es einer Reizüberflutung unseres Denkprozesses entgegenwirkt. Hauptsache bleibt aber, dass wir unsere Entscheidungen hinterfragen.
    Wie ist es zu dieser Einordnung gekommen? Das ist die Kernfrage.
    Nur dann entwickelt sich das System weiter und lässt sich von uns auch (in gewissen Maßen) beeinflussen. Und darauf kommt es an.

    Manchmal steckt mehr als vermutet hinter einer Situation oder auch Person. Das bedeutet jetzt nicht, dass ich mit allem und jeden auf „Kuschelkurs“ gehen muss, aber ich muss meine erste Einschätzung immer hinterfragen und ggf. auch bereits sein, diese anzupassen.
    Soweit jedenfalls bei privaten bzw. „Erst-„Kontakten.

    Bei beruflichen Kontakten muss ich für mich entscheiden, ob mich mich auf einer persönliche oder nur auf einer professionellen Ebene mit meinem Gegenüber einlasse. Auf einer professionellen Ebenen kann ich quasi mit jedem zusammenarbeiten, solange ich nicht persönliche angegriffen werden.

    Meine persönliche (private) Ebene dagegen ist ausgesuchten Personen vorbehalten. Das dauert bei mir recht lange bis ich da jemanden hineinlasse.

    Aber im Guten und Ganzen bin ich für ein interessantes Gespräch, auch mit mir unbekannten Personen, immer offen.
    Schließlich weiß ich nie, wofür es gut sein kann.

  6. Vielen Dank lieber Bernd für das Teilen Deiner einmaligen Begegnung mit dem Herren. Zu oft verpassen wir diese magischen Momente, weil wir behaftet sind mit Vorurteilen und die erste Sekunden unserer Wahrnehmung durch Bewertungen geprägt sind. Und was sollten uns andere Fahrgäste kümmern, die einen falsch von der Seite anschauen ?! Solche Menschen folgen der Masse und zeigen keinen Mumm. Wer wirklich frei ist, lässt sich auf die gegenwärtigen Momente ein mit realen und vom Leben gekennzeichneten unverwechselbaren Individuen statt Avataren und digitalen Zeiträubern. Ich finde es sehr schön, dass Du uns an der Geschichte teilhaben lässt. Wir müssen andauernd wachgerüttelt werden – im wahrsten Sinne des Wortes :)

  7. Lieber Herr Slaghuis, Sie haben mich dermaßen berührt mit diesem Erlebnis, dieser so ehrlichen Darstellung Ihrer Empfindungen, eigentlich des Widerwillens, gegen das ungepflegte Äußere, gegen seine Grenzüberschreitung – und dann dem Moment, als sie dachten, lass‘ es jetzt einfach mal zu. Und es ist trifft genau das, wie rasch wir zur Hand sind mit unseren Meinungen über den Mitmenschen. Jeder kennt das von sich selbst, und ich ertappe mich oft dabei – und dann bisweilen dem nochmaligem Ansatz, wer weiß, was hinter diesem Gesicht steckt.
    Ich habe im Herbst vergangenen Jahres ein Erlebnis gehabt, dass in gewissen Zusammenhängen ebenfalls eine Überschreitung innerlich gesetzter Grenzen war. Ich stand am Bahnhof Friedrichstraße, wartete auf meine S-Bahn; da spricht mich sichtlich vorsichtig und sofort auch zum Rückzug bereit, eine Frau mit schon sehr großflächiger Verschleierung (aber dem Gesicht frei) an, ob ich ihr sagen können, wo hin und wann … Ich muss ehrlich sagen, dass mich Verschleierung / Kopftuch eigentlich zornig macht; dass das nicht (mehr) in unsere Zeit gehört, dass es mich ärgert, wenn Frauen das mit sich machen lassen usw. usf…. ich sah in dieses Gesicht und ich fühlte mich sofort berührt, ein kluges Gesicht, die Frau wohl so in den 40ern, Mitte, Ende. Ich sagte spontan, wissen Sie was, schließen Sie sich mir einfach an, wir haben denselben Weg – und dann entwickelte sich in 35 Minuten S- und U-Bahn ein so intensives Gespräch, sie kam aus dem Libanon, lebte schon lange hier, hatte Kriegswirren er- und überlebt, von ihren drei Töchtern hatte sich eine für Verschleierung (wie ihre Mutter) die anderen beiden dagegen entschieden, sie erzählte von ihrem Leben, vom Leben der Töchter, einer der Enkelinnen, wir sprachen über Politik, über Vorurteile, wir beugten uns immer näher zueinander und es entstand eine Art Kokon um uns. Ich nahm noch am Rande erstaunte Blicke wahr, was haben die so nordisch aussehende Person und diese Frau miteinander zu tun. Und als die Frau aus dem Libanon und ich uns dann am Zielbahnhof trennten, nahmen wir uns in den Arm und ich spürte eine Wärme der Begegnung, die eine tiefe Freude und zugleich Melancholie in mir auslöste. Wie sehr könnten wir uns viel öfter so begegnen; wie viel an Vorbehalten kommt aus dem Nichtkennen. Ja, sehen Sie, Ihr Beitrag hat mich bewogen, das jetzt hier zu schreiben, ganz herzlich grüßt Sie Ihre Social Network-Bekanntschaft (einmal haben wir auch schon ein langes Telefonat geführt), Katharina Daniels

  8. Hallo Dr. Slaghuis,

    ein sehr bewegender Artikel. Nach dem Lesen musste ich erstmal innehalten.

    Schade, dass der Unbekannte so schnell weg war, es wäre interessant gewesen, mehr über ihn zu erfahren.

    Es sind oft die kleinen Türen, die große Räume öffnen, heißt es. Sehr oft habe ich Menschen getroffen, die auf den ersten Blick wie verwahrlost ausschauten, dann aber im Gespräch eine komplett andere Seite zeigten. Es ist nicht alles Gold was glänzt, auch wenn uns das in der Konsumgesellschaft so vorkommt.

    Dieser Artikel ist eine richtige Erfrischung zu den üblichen Sachthemen.

    Viele Grüße
    Sladjan Lazic

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