Augenhöhe im Bewerbungsgespräch? Ein Beispiel aus der Praxis.

Immer wieder berichten mir Klienten im Coaching von ihren Erlebnissen in Bewerbungsgesprächen. Diese reichen von reinen Werbeveranstaltungen der Unternehmen für sich und nahezu völligem Desinteresse am Bewerber bis hin zu wirklich absurden Fragen und Auswahlmethoden, bei denen sich erwachsene Menschen vorkommen wie Fünftklässler an der Schultafel. Ein Fall hat mich in den letzten Wochen besonders erschüttert.  Mein Klient, nennen wir ihn Herrn Otto, war zu Gast in einem mittelständischen Unternehmen im Handelsumfeld, es ging um eine Funktion ohne Führungsverantwortung.

Nach einem sehr angenehmen Empfang am Eingang und Beobachtung sympathisch wirkender rein und rausgehender Mitarbeiter wurde Herr Otto zum Gespräch gerufen und stand einer jungen Personalmitarbeiterin sowie dem potenziellen zukünftigen Chef im mittleren Alter gegenüber. Gleichzeitig mit dem Handschlag zur Begrüßung wurde klargestellt, dass die Zeit für das Gespräch knapp bemessen sei und die Personalerin und der Chef die Fragen stellen. Damit war eigentlich alles gesagt, meinem Klienten war zu diesem Zeitpunkt klar, dass dies ganz sicher nicht die Firma ist, in der er arbeiten möchte.

Das leuchtet mir ein, hatte ich Herrn Otto doch im vorbereitenden Coaching die Perspektive eröffnet, dass ein Vorstellungsgespräch auf Augenhöhe stattfinden kann und der Bewerber heutzutage sehr wohl auch selbst entscheiden darf, ob er eine angebotene Stelle annimmt oder nicht. Und, dass auch Bewerber im Jahr 2014 das Recht haben, Fragen zu stellen und herauszufinden, ob sie sich vorstellen können, die nächsten Jahre einen Großteil ihrer Lebenszeit in diesem Unternehmen zu verbringen. Ganz zu schweigen von der Frage, ob der Job der Richtige ist und mit hoher Wahrscheinlichkeit die Werte des Bewerbers erfüllen wird. Also das bietet, was dem zukünftigen Mitarbeiter wichtig im Leben und im Beruf ist und was erfüllt sein sollte, um dort glücklich zu sein.

Am Rande … Dürfen Mitarbeiter überhaupt glücklich sein?  Darf man Freude oder sogar Spaß im Job haben? Muss man nicht froh sein, überhaupt einen Job zu haben? Und das Leben kann ja nicht immer schön sein! Schließlich bekommt man ja auch Geld für die geleistete Arbeit. Eine erschreckende Sichtweise, die immer häufiger in den Köpfen verankert ist … oder wird?

Zurück zum Vorstellungsgespräch. Warum interessiert es Unternehmen im Vorstellungsgespräch, ob der Bewerber am Vortag die Internetseiten und Geschäftsberichte des Unternehmens auswendig gelernt hat und aufsagen kann? Warum werden Bewerber in die Rechtfertigungsposition getrieben, wenn es um die Erklärung von Lücken oder scheinbaren Ungereimtheiten im Lebenslauf geht? Wenn sich ein Mensch entscheidet, dass ihm 2 Monate Entspannung und Faulheit vor einem neuen Job gut tun und er sich das leisten kann, dann ist das doch in Ordnung und wahrscheinlich für die Zufriedenheit und damit die Produktivität des zukünftigen Mitarbeiters für das Unternehmen sogar positiv.

Wenn es für die Stelle angebracht ist, den Kandidaten in bestimmten Situationen, z. B. unter Stress einschätzen zu können, gibt es diverse Methoden, dies im Bewerbungsprozess wertschätzend herauszufinden. Wer versucht, den eh schon gestressten Bewerber durch Fragen zur Erklärung oder Rechtfertigung in die Ecke zu treiben, um damit seine Belastbarkeit zu prüfen, hinterlässt beim Bewerber in der Regel keinen guten Nachgeschmack. Das Gespräch wird vielmehr später als unangenehm bewertet – ein Gefühl, welches Bewerber doch wohl lieber nicht mit dem ersten Kontakt ihres vielleicht nächsten Arbeitgebers verbinden sollten.

Wo ist die Wertschätzung für die bereits geleisteten Aufgaben und wo ist das tatsächliche Interesse an der Person des Bewerbers und dem, was sich hinter einem maximal 2-seitigen Lebenslauf und Worthülsen im Anschreiben wie Engagement, Teamgeist und Beitrag zum Erfolg des Unternehmens verbirgt? Wo sind die Signale an den Bewerber, sich im Gespräch wohlfühlen zu dürfen und die Freiheit zu besitzen, die für ihn wichtigen Fragen platzieren zu können? In diesem konkreten Fall meines Klienten Herrn Otto eine komplette Fehlanzeige. Ein Einzelfall?

Ich verstehe, dass Unternehmen den Spagat zwischen dem Verkauf der Attraktivität eines Arbeitsplatzes (Werbeveranstaltung) und dem Auf-den-Zahl-fühlen des Bewerbers (Entscheidung) hinbekommen müssen. Das ist nicht immer einfach. Die gleiche Aufgabe hat aber auch der Bewerber zu leisten und im Idealfall auch die Möglichkeiten hierfür.

Sicherlich gibt es auch sehr viele hervorragend geführte Gespräche, in denen sich beide Seiten mit Respekt, Wertschätzung und auf Augenhöhe begegnen. Wahrscheinlich – das ist zumindest noch meine Hoffnung – ist dies auch die Normalität. Es geht um die Frage, ob man zueinander passt, sich also der Bewerber mit der Aufgabe, dem Chef, den Kollegen und der Unternehmenskultur gut fühlt und auch das Unternehmen das Gefühl hat, dass der zukünftige Mitarbeiter die Erwartungen erfüllen kann und gut ins Unternehmen passt. Ob das tatsächlich so ist, erfahren beide Seiten immer erst nach ihrer Entscheidung füreinander. Das Risiko der Fehlentscheidung besteht für Bewerber und Unternehmen gleichermaßen und kann niemals vollständig durch Gespräche oder psychologische Auswahlverfahren ausgeschlossen werden. Es geht für beide Seiten vielmehr um die Nutzung der Chance, den meist begrenzten Zeitraum dieser „Kennenlerngespräche“ so gewinnbringend wie möglich zu gestalten und sich auf der Grundlage von Authentizität und Offenheit gegenseitig ausreichend gut kennenzulernen.

Herr Otto freut sich nach dieser Erfahrung auf das nächste interessierte Unternehmen und ich wünsche ihm und Ihnen, liebe Leser, falls Sie sich auch gerade in einem Bewerbungsprozess befinden, gute Kennenlerngespräche.

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Dr. Bernd Slaghuis

Ich arbeite als Karriereberater & Bewerbungscoach und habe mich auf Themen rund um die Karriereplanung und berufliche Neuorientierung spezialisiert. Seit 2011 habe ich über 2.000 Angestellte bei ihrem nächsten Schritt im Beruf sowie im Bewerbungsprozess begleitet - über alle Hierarchieebenen und Branchen hinweg - Online oder in meinem Kölner Büro. Meine Erfahrungen teile ich hier im Blog, in meiner SPIEGEL-Kolumne sowie als XING Insider und LinkedIn Top-Voice.

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